Tanja Nuster

Warum neigen wir alle dazu oberflächlich zu sein?

Warum neigen wir alle dazu oberflächlich zu sein?

Jeder denkt sich „Oberflächlich? Ich? – Nein, ich achte NUR auf die inneren Werte! Niemals würde ich jemanden aufgrund seines Aussehens verurteilen…“.

So ein Schwachsinn! Ich traue mich zu behaupten, dass wir alle oberflächlich und von Vorurteilen behaftet sind. Vielleicht nicht aus Absicht, aber wir tun es alle. Menschen aufgrund ihres Auftretens zu beurteilen und sie in Schubladen zu stecken. Auch mir passiert das hin und wieder…

 

Hier eine kleine Geschichte dazu:

Als Kellnerin in einem Café, konnte es auch mal vorkommen, dass ich um die Mittagszeit herum weniger zu tun hatte, da es ruhiger war. Diese Zeit konnte man gut dafür nutzen, zwischendurch die Ablagen zu reinigen und etwas sauber zu machen. Ich war gerade dabei einige Gläser durchzuspülen, die schon länger nicht mehr gebraucht worden waren, als eine Dame, geschätzte 55 Jahre, den Raum betrat. Sie wirkte etwas verwirrt und steuerte den Tresen an. Man konnte ihr ansehen, dass sie nicht besonders fit war. Die Augen wirkten müde, das Haar zerzaust und die Kleidung nicht ganz frisch.

Sie setzte sich also an die Bar und bestellte einen leichten weißen Spritzer. Dabei nuschelte die Frau so, dass ich dreimal nachfragen musste, bis ich ihre Bestellung wirklich verstanden hatte.

Ich sage es euch ehrlich, „komplett betrunken“, habe ich mir gedacht. Ich stellte ihr den Spritzer vor – Extra leicht, da es mir so vorkam, als wäre sie bereits mit einem „Leichten“ zur Mittagszeit hereinspaziert. Dann gingen wir zum üblichen Small-Talk über, was sich als schwierig herausstellte, da sich die Dame, wie bereits erwähnt, sehr schwer tat beim Sprechen. Wir plauderten also über das Wetter und über den Ort, aus dem sie kam. Es war eigentlich ein nettes Gespräch, bis auf die Tatsache, dass ich ständig nachfragen musste, weil ich die Hälfte nur sehr schwer verstand.

Und langsam wurde mir klar, dass ich diese Frau komplett falsch eingeschätzt hatte. Und Scham brach über mich herein…

Die Frau war nicht betrunken, auch wenn sie stark den Eindruck danach machte. Wie sich herausstellte, hatte sie einen schweren Unfall und lag aufgrund ihrer Kopfverletzungen danach einige Zeit im Koma. Als sie daraus erwachte, musste sie vieles neu lernen, zum Beispiel das Sprechen.

Sie erzählte mir also von ihrem Unfall, ihrem neuen Leben in Betreuung und dass sie vieles noch nicht, oder nicht mehr, alleine machen konnte.

Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass mir dieser Gedanke überhaupt in den Sinn gekommen war, ohne die Frau vorher kennengelernt zu haben. Ja, ich schämte mich zu tiefst. Und tue es immer noch, obwohl es jetzt doch schon eine ganze Weile her ist.

Also frage ich mich, warum neigen wir alle dazu oberflächlich zu sein? Und wenn ich sage alle, dann mein ich das auch so. Ich bemühe mich ständig, niemanden in eine Schublade zu stecken, trotzdem bilden wir uns diesen „ersten Eindruck“ von jemanden, wenn wir ihr oder ihm das erste Mal begegnen. Ich denke, davor ist niemand sicher. Und ich glaube auch, dass es keiner absichtlich macht und das auch gar nicht böse gemeint ist, aber es ist nun mal in uns. Wie eine Krankheit, steckt es tief in uns drin und wartet nur darauf, heraus zu hüpfen. Alles was wir dagegen tun können ist, uns selbst immer wieder darauf aufmerksam zu machen, vorsichtiger beim Beurteilen von Situationen zu sein und erste Eindrücke so gut es geht auszublenden.