Mobbing unter Kindern: Wer draufhaut, hat weniger Angst

„Mobbing“ – gehört hat davon schon fast jeder. Erlebt haben es viel zu viele. Wie der achtjährige Leon*. WIR-OSTSTEIRER-Gastautorin Samira Frauwallner hat seine Geschichte und Gedanken in Worte gefasst, um Kindern und Eltern in einer ähnlichen Situation Mut zu machen.

Rückblende. Es ist Fasching. Wie überall stürmen die Kinder in die Schule und feiern als Prinzessin Elsa, Spiderman und Räuber. Sie treffen aufeinander, so unterschiedlich wie nie, und finden sich toll in ihren Kostümen. Je ausgefallener die Verkleidung, desto „cooler“. Im Fasching muss das so sein.

Kaum sind an diesem Tag die Masken und Perücken abgelegt, die Kleidchen im Schrank verstaut und die Augenklappen zurück am Dachboden, verraucht die grenzenlose Nachsicht für die Eigenheit des Einzelnen.

Dann gibt es wieder die Kleine, die ständig Fragen stellt, und das viel zu laut. Es gibt den Jungen, der lieber Lieder singt als Malreihen übt. Ein Mädchen starrt wütend auf sein Heft. Es möchte mit den Freundinnen im Garten selbst die Blumenwelt erkunden, die gestern im Sachunterricht besprochen wurde.

Anders sein – anders denken – auch unter Kindern ist das nicht immer gern gesehen.

Da sitzt ein Kleiner, der gestern noch Spiderman sein durfte. Als Spiderman fanden ihn die anderen Buben cool. Als Spiderman haben sie ihn wahrgenommen und ihn in ihren illustren Kreis aus Polizisten, Ninjas und Rittern gezogen. Heute ist Leon nicht mehr Spiderman.

Facettenreichtum

Fasching ist vorbei. Es ist ein Tag wie jeder andere. Die Kinder sind einfach nur sie selbst. Ihre Persönlichkeiten sind unterschiedlicher, als es zu Fasching je möglich sein wird. Doch ohne Prinzessinnenkleid und Piratenkostüm ist ihr Horizont beschränkt. Nun zählen für die Großen andere Leistungen. Und unter den Kleinen zählen andere Werte.

Leon wirkt wie ein kleines magisches Wesen. Wenn man ihn beobachtet, bekommt man das Gefühl, er befindet sich in seiner eigenen Welt, wo es weder Erdanziehungskraft noch Sorge gibt. Wenn man vergisst, dass er ein Kind ist, glaubt man manchmal, er trägt Flügel.

Das spüren auch die anderen Kinder. Und Leon spürt: Es ist gefährlich, zu sehr zu schillern. Es kann riskant werden, ohne Spidermankostüm brillieren zu können, genial zu sein. Es gibt Kinder, die Angst davor haben.

Goldwaage

Für Kinder wie Leon balanciert alles, ihr gesamtes Tun und Handeln, auf einer Waage. Sie sind ausgeglichen. Für ihn hat es bisher keine Unterschiede gegeben, und es wird sie auch danach nicht geben. Manche Kinder wollen sein, wie sie sind, und sind in ihrem Sein genial.

Doch es gibt andere Kinder, die nur zu gerne darauf warten, dass ein anderes purzelt. In manchen Kindern löst Wissen und Glänzen etwas aus. Sie haben Angst, und die lösen sie mit Aggressivität. Denn dann sind sie stärker. Stärker als Leon. Stärker als ihre Angst.

Sie bilden Gruppen. Sie vergessen das Denken. Sie fühlen keine Nachsicht. Sie zaubern kurze, kindliche Strategien: Angstbewältigung durch Körperlichkeit.

Das Kind auf der Waage, das Waagenkind, wird zum banalen Zielobjekt eines anderen Kindes, das sich bedroht fühlt. Leons Balance ist dahin. Die Waage kippt.

Erst langsam. Anfangs ist die brutale Ehrlichkeit im Spiel mit dem ängstlichen Kind nur Spiel. Das Kind auf der Waage versteht vieles, mehr als andere. Schimpfwörter benutzt das Kind auf der Waage selbst gerne, denn es sind die verbotenen Worte aus der Welt der Erwachsenen. Und damit kann es zu Beginn umgehen, selbst wenn es der inneren Balace einen Schubs versetzt.

Doch Nachmittage sind lang, und mit jedem Tag werden sie länger. Die Schimpfwörter verwandeln sich. Das Waagenkind hat zu viel Nachsicht und zu viel Geist, um sich in seinem Tun und Denken reizen zu lassen.

Aus den kindlichen Strategien, das Waagenkind purzeln zu lassen, werden wüste Ausbrüche. Es muss etwas geschehen, um die konstant steigende Angst unter Beherrschung zu bringen. Die entstandene Kleingruppe mit anderen Kindern, die keine Angst, aber umso mehr unerklärliche Schaulust empfinden, wagt sich einen großen Schritt über die spielerische Grenze.

Und das Waagenkind ist allein.

Es würde viel lieber mit Freunden spielen. Es würde lieber vergessen, dass es Zielscheibe geworden ist. Es versteht nicht, warum etwas anders als sonst ist, und seit wann.

woman-1006100_1280
Kinder, die Mobbing aushalten müssen, beginnen an sich selbst zu zweifeln. Vielleicht haben die anderen ja doch recht?

Es hat nun auch Angst. Angst vor Verboten. Angst davor, tatsächlich so zu sein, wie die Kinder aus der Gruppe es bezeichnen. Das Waagenkind hat Angst, zu laut zu reagieren, es hat Angst, Aufmerksamkeit zu erregen.

Aufmerksamkeit bedeutet Veränderung. Und oft folgen auf Veränderungen Verbote.

Das Waagenkind wird ruhig sein. Es wird weiterhin spielen dürfen, aber manchmal kommt die Kleingruppe. Mit dieser Gruppe wankt die Welt.
Mit dieser Gruppe muss es Dinge hören und Dinge spüren, die es nie spüren wollte.

Mit dieser Gruppe wird aus dem Waagenkind ein Kind mit Angst vor Wagnis.

Es wagt nicht, aufzuzeigen. Es schluckt diese neue Angst lieber wie den Krautsalat von letzter Woche.

Kinder in einer Mobbingsituation verlieren oft den Hunger. Das alltägliche Mittagessen wird ausgespart, aus normalen Verhaltensweisen zuhause wird für Eltern oft klar ersichtlich fremdartiges Verhalten. Das Kind beginnt, den inneren Druck über den Körper auszulassen.

Repression

Immer komischer wird das gefühlte Innenleben des Waagenkinds. Zuhause hat es Befürchtungen: Es könnte nicht mehr spielen dürfen in der Nähe des Kindes mit der Gruppe. Das Pausenhofspielen, für das es sich lohnt, fünf Stunden an Pulten zu sitzen, könnte gestrichen werden.

Oder: Möglicherweise hat doch das Waagenkind etwas falsch gemacht. Vielleicht ist es wirklich so, wie die Kinder aus der Gruppe es sehen wollen. Also schluckt es lieber das Gefühl, falsch zu sein, wie die Karottensuppe von letzter Woche.

Die Eltern kennen ihr Waagenkind. Es war schillernd, und die Lebhaftigkeit war schöner als jede Faschingsverkleidung. Es war schlau, und die Schule ein Ventil dafür. Es war voller Leben, und es hat gelacht und gezeigt, was es kann. Nun sitzt das Waagenkind still am Tisch. Es schluckt das Schnitzel wie den Krautsalat von vor zwei Wochen.

Es trägt nicht einmal mehr die Flügel, die es auch ohne Fasching getragen hat.
Es erzählt nicht mehr, wie es in der Schule war. Außer, dass die Schule schlecht ist.
Die Eltern erkennen ihr Kind nicht mehr.

Das Waagenkind zieht sich zurück. Es verschließt sein Innenleben wie den Verschluss der Saftflasche. Bloß nichts auslaufen lassen. Wenn man etwas aus der Saftflasche auslaufen lässt, hinterlässt es bloß hässliche Flecken.

Das Waagenkind verliert seine Waage.
Es verliert seinen Mut.
Es verliert sein Körpergefühl.

Es kann nicht erklären wieso, aber plötzlich fängt der kontrollverlorene Körper mit Dingen an, die es nicht kennt. Der Körper fängt manchmal zu zucken an. Manchmal hat das Waagenkind das Gefühl, sich nicht mehr zu spüren. Manchmal glaubt es, dass es das ist, was die Kinder aus der Gruppe ihn heißen. Vielleicht stimmt es, was die sagen. Immerhin sind es viele geworden, die das sagen.

fist-bump-933916_1280
Für manche Kinder ist Gewalt als einfachste Weg, um ihre Unsicherheit in Überlegenheit zu verwandeln. Aber auch wenn nicht die Fäuste sprechen: Mobbing tut weh.

Und eines Morgens bricht die Saftflasche auf.
Sie zerplatzt unter dem Druck. Sie sprudelt über, sie macht hässliche Flecken überall. Die Kinder aus der Gruppe haben längst keine Angst mehr, sie verspüren Wut ohne Erklärung.

Sie haben ihrer Wut freien Lauf gemacht und ihre Wut in ihre Hände überlaufen lassen. Das hat sich für sie gut angefühlt.

Doch nun wurden sie entdeckt.

Denn die Eltern – die Eltern kennen ihr Waagenkind. Sie kennen das Schillern, sie kennen das Leuchten der Augen, sie kennen die Intelligenz und die Nachsicht. Sie kennen das Gefühl des Kindes, das noch immer richtig lag. Und sie haben entdeckt, dass etwas falsch läuft.

Die Eltern zweifelten nicht an ihrem Kind. Nur anfangs, als es zuhause ausfällig wurde. Doch sie haben nicht daran gezweifelt, dass das Übel an anderen Orten begraben ist.

Die Eltern haben den Mut gezeigt, nach dem sich das Waagenkind gesehnt hat. Sie haben die Grenze überschritten, die für die Kinder aus Gruppe magisch und nicht zu stürmen war.

Die Eltern haben den Ort gefunden, an dem das Übel begraben ist. Sie haben den Ort gefunden, der so zart und zerbrechlich ist.
Das Kind mit der Gruppe. Das Kind mit der Angst.

Für Eltern ist das Thema Mobbing beängstigend und kompliziert. Man will dem Kind keine Entscheidungen abnehmen oder es aus Situationen retten, in denen es lernen sollte, alleine zurecht zu kommen.
Oft will man nicht einmal glauben, dass das eigene Kind in der Schule gemobbt wird.

Aber: Mobbing ist kein Kinderspiel. Solche Konflikte lösen sich nicht von alleine. Sie ziehen sich schlimmstenfalls über die gesamte Schulzeit hin und hinterlassen Spuren, die auch viele Jahre später noch schmerzen.

Wichtig ist daher, dem Problem nachzugehen und Kontakt zum Lehrpersonal der Schule aufzunehmen.

Wandlung

Es sind Wochen vergangen. Das Waagenkind hat Angst, wieder auf die Waage zu steigen. Es hat erlebt, dass selbst diese Waage schwanken und fast komplett kippen kann.

Es fühlt Nervosität, wenn es in die Schule geht. Die Schule hat es in dem gefühlt ganzen letzten Jahr gar nicht mehr erlebt. Es war nur noch diese Angst, die wie ein Surren in den Ohren geklungen hat. Die Angst, dass das Kind mit der Gruppe wieder kommt. Dass das Kind mit der Gruppe kommt und anfängt, weh zu tun.

Doch nun ist vieles anders. Einiges ist vorbei. Manches ist neu. Gewisse Dinge haben sich im Universum des Kindes geändert.

Doch am besten hat es sich angefühlt, als die Eltern endlich davon wussten. Und dass die Karottensuppe und der Krautsalat, das Schnitzel und die Frittatensuppe wieder geschmeckt haben.

Dass die Eltern nicht auch geglaubt haben, was die Kinder aus der Gruppe ihn geheißen haben.
Und dass es immer noch nach der Schule im Pausenhof spielen darf.

child-164317_1280
Langsam wieder Vertrauen fassen und lernen, nach allem Erlebten trotzdem wieder auf andere zuzugehen: Eine große Aufgabe.

Das Waagenkind hat seine Waage zurück, Teile seines Muts auch, und das Kind mit der Angst muss nun lernen, woher die Angst kommt und wie man damit umgeht.

Leons Geschichte hat ein relativ gutes Ende gefunden. Das Mobbing durch seine Mitschüler, die Schimpfwörter und die Prügel sind vorbei. Leon hat zu großen Teilen seine Persönlichkeit zurückerobert und hat keine Angst mehr, den Eltern von seinen Sorgen zu erzählen.  In der Schule weiß man endlich Bescheid und Lehrer wie auch andere Eltern verhalten sich nun sensitiver mit der Situation.


 

*Leon lebt in der Oststeiermark und geht hier in die Volksschule. Hier kennt man sich. Deshalb haben WIR OSTSTEIRER ihm für diesen Beitrag einen neuen Namen gegeben. Wir verraten auch nicht, wo genau sich seine Geschichte ereignet hat. Gewesen sein könnte es überall.